Donnerstag, 9. Juni 2011

1. Abschnitt: Wie ich trotz und wegen der DDR ... (3)

Mit dem Verschwinden des Standardopfers, an dem sich meine Mitschüler ihren Schulfrust abreagiert hatten, begann die Suche nach neuen Opfern. Wir waren eine Klasse mit einem Überschuss an Jungen und die körperlich etwas stärkeren begannen nun die Jagd auf körperlich Schwächere. Damit geriet auch ich wieder ins Visier. Allerdings hatte sich die Situation innerhalb der Klasse verändert. Es waren nicht nur gelegentlich ein paar Kinder in meiner Nähe, um meine Blödeleien zu hören, sondern ich hatte einen Kreis von kindlichen Partnerschaften: Einen Freund, der an mir hing wie Watson an Holmes, und noch ein paar Andere, durch die ich mich wie ein Bandenchef fühlen konnte. Ausnahmslos waren es aber alles körperlich nicht überlegene Jungen. Die gegenseitige Hilfe bestand u.a. darin, dass ich bei den Hausaufgaben half und dafür meine Kunst-Werke für den Zeichenunterricht vorbereitet bekam, sodass eine Vier in Zeichnen nun selten wurde (Es waren manchmal sogar Zwei dazwischen – Einsen nicht, denn ein paar Striche stammten von mir.) Meine logische Lektion: Andere konnten etwas, was ich nicht konnte, und umgekehrt. Wenn dies auch offiziell nicht erwünscht war, eigentlich sogar als Betrug bewertet wurde, so stand doch fest, dass die gegenseitige Nutzung unserer Stärken für alle Beteiligten Vorteile brachte. Es machte mir dabei wenig aus, dass ich mehr einbrachte als ich herausholen konnte.
Das Problem der Prügel, des Mobbings der Schwachen war damit aber noch nicht gelöst. Es fanden nämlich immer ausreichend körperlich Überlegene zusammen, um ausreichend Schwächere zu quälen. In die Gruppe der „Schwächeren“ gehörte sogar ein Junge von hohem Körpergewicht, dem es aber deshalb an Schnelligkeit und Beweglichkeit mangelte. Was mich am meisten deprimierte: Die da prügelten waren „leistungsschwache“ Schüler, die sich auf solche Weise ihr „Siegerlebnis“ aus der Schule holten, die Betroffenen jedoch versuchten – letztlich meist erfolglos – sich im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage der körperlichen Auseinandersetzung zu entziehen … sie liefen also davon. Eigentlich ging dies so bis Klasse 7. Und dann passierte etwas, was ich im Nachhinein vielleicht überbewertet und fehlinterpretiert habe. Aber es ist eben genau so passiert:
In einer großen Hofpause war es mir gelungen, alle die eigentlich auf „meine“ Seite gehörten zu sammeln. Es kam zur Schlacht. Diesmal blieben wir nicht nur (wie sonst eigentlich auch) zahlenmäßig überlegen, sondern wir kämpften auch geschlossen. Und wir beendeten diese Hofpause als Sieger. Womit ich nicht gerechnet hatte, trat ein: Von kleinen „Kappeleien“ (wie das meine Mutter genannt hätte) abgesehen, die ja wohl überall vorkommen, trat ein dauerhafter Friede ein. Nicht, dass wir nun alle Freunde geworden wären, aber das große Problem, dieses permanente Massenmobbing war zu Ende.
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass wir insgesamt reifer geworden waren und diese „Schlacht“ nur Anlass und nicht Grund war, aber auf jeden Fall erlebte ich in dieser Schülerrolle die Siegpotenz von Underdogs, sobald sie als solidarische Gemeinschaft kämpften.
Ein Anhänger körperlicher Gewalt bin ich damit nicht geworden. Allerdings erlebte ich recht handfest, dass es Situationen gibt, bei denen sie notwendiges Mittel ist, um Gewaltverhältnisse zu beenden. Das hatten wir erreicht – und darauf bin ich noch Jahrzehnte später stolz.

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